Erinnerungen: Zu schön, um wahr zu sein?
Wie ich einen Ohrring in Paris verlor und daraus lernte, die Vergangenheit weniger zu verklären.
Der letzte Sommer kommt mir immer wärmer vor, der Winter war im Frühling gar nicht mehr so schlimm und das pinke Viskosekleid spannte auch nicht so um den Hintern. Und hatte ich nicht mal den perfekten Blondton, irgendwann im vorletzten Herbst? Ich könnte schwören, früher war wirklich alles besser.
Aber nein, Fehler im neuronalen Verarbeitungsprozess sollen das sein, irgendwo im sequenziellen Langzeitgedächtnis. Dort speichern wir Erlebtes ab. Dabei tendieren wir dazu, negative Details auszublenden – und Positives langfristiger verfügbar zu machen. Hinzukommt, dass eine Erinnerung jedes Mal, wenn wir sie abrufen, neu bearbeitet und auch neu abgespeichert wird. Wir erinnern uns also gar nicht an das Ereignis selbst, sondern an die letzte Version der Erinnerung daran. Und nicht selten scheint unser episodisches Gedächtnis diese kognitive Ereignis-Kopie positiv zu verzerren: Alles Vergangene wirkt mit seiner Vollendung sofort schöner als je zuvor.
Wie der üppige Art-déco-Ohrring, der mir vor elf Jahren in Paris 116 Stufen Metro-Treppe hinunterfiel – durch die Geländerrippen rutschend, fertig für den freien Fall; und Aufprall. Ich hatte ihn davor kaum getragen, weil mein linkes Ohrläppchen dem Clip nie jenen Halt geben konnte, den er in meinem Leben gebraucht hatte. Doch für Paris kam mir mit funkelnden Steinen besetzte Opulenz gerade richtig vor. Und das Risiko des Verlierens vernachlässigbar. Das kam erst wieder auf, als ich verzweifelt daran scheiterte, die Einzelteile des Ohrrings zwischen Kippen und Kaugummis auf dem dunklen Métro-Bahnsteig wiederzufinden. Meine Trauer spülte ich mit teuer sprudelnden Prozenten runter.
Alles, was mir blieb, war die Erinnerung an dieses schillernde Schmuckstück (die Bar-Rechnung hatte ich als negatives Detail vorbildlich verdrängt). Und mit fortschreitender Entfernung, zeitlich wie örtlich, wurde mein sequenzielles Langzeitgedächtnis von seiner Perfektion nahezu geblendet. Der Ohrring, der sich jahrelang in meinem Schmuckkasten die unechten Edelsteine matt gelegen hatte, weil er einfach nicht halten wollte, wurde nun zum fehlenden It-Accessoire eines jeden Outfits: Wie perfekt er zum Slipdress gepasst hätte, zur transparenten Seidentunika oder zum knalligen Viskose-Zweiteiler aus den 80ern. Ich vermisste ihn schmerzlich.
Bis ich ihn irgendwann einfach vergaß, weil die Realität neue Erinnerungen schuf: Clips, die sich sanft, aber bestimmt an meine Ohrläppchen schmiegten und deswegen so oft ausgeführt wurden, dass das Metall irgendwann ganz abgegriffen war. Und mit neuen Ohrringen kam auch die Erkenntnis: Nach Jahrzehnten verlorenen Schmucks und positiv-verzerrten Rückblicken denke ich nicht mehr, dass man erst merkt, was man hat, nachdem man es verliert.
Wir sollten unseren Erinnerungen nicht alles glauben. Weder sie noch wir sind objektiv. Und so sind sie nichts weiter als ein schmeichelnd-unscharfer Abzug von dem, was mal war: ein Weichzeichner für Erlebtes. Darum scheint die Vergangenheit manchmal perfekter, als die Zukunft je werden kann. Dabei vergessen wir, dass die kleinen Fehler, Macken und Kanten dazugehören – und wichtig sind! Aus ihnen lernen wir: zum Beispiel, wenn eine kurze Youtube-Recherche mehr als ein Jahrzehnt später ergibt, dass Ohrclips sich ganz einfach enger machen lassen.