Ob Knie oder Herz: Es tut weh
Dass Zeit alle Wunden heilt, ist Schwachsinn. Aber zumindest leiden wir nicht allein.
„Vielleicht können Sie ja auch mit dem Schmerz leben?“, fragte mich mein Orthopäde am Ende meines Termins. Ich nahm einen tiefen Atemzug, um mir Zeit für eine Antwort zu verschaffen. Aber ich hatte keine.
Mein Meniskus war vor zwölf Jahren gerissen; nicht vollständig, aber ausreichend, um mir seither mindestens das Treppensteigen zu verleiden. Mal mehr, mal weniger – aktuell wieder mehr. Ich verfluche mein Knie dafür, damals nicht stark genug gewesen zu sein.
An den Moment des Reißens erinnere ich mich gut: eine Tanzstunde mit einer so leidenschaftlichen Choreografie, dass eine Tänzerin den Raum verlassen musste, weil sie völlig ergriffen war von den Bewegungen zur Musik, mit denen unsere Tanzlehrerin eine aufwühlende Geschichte erzählte. Es ging um Schmerz – welch Ironie.
Beim Bodenteil fühlte ich diesen besonders: als ein scharfes Stechen in mein Knie schoss, es blockierte und anschwoll. Ich wusste nicht, was da los war, aber ich wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Nach der Tanzstunde schulterte mich der Partner meiner Tanzlehrerin erst sechs Etagen aus dem Tanzstudio runter und dann vier Etagen in meine Wohnung hoch. Zwei Tage lang kühlte ich mein Knie, dann humpelte ich zum orthopädischen Zentrum für Sportverletzungen. „Könnte schlimmer sein“, diagnostizierte der Arzt. „Warten Sie ab. Sollte von allein ausheilen. Die Schmerzen müssten weggehen.“
Könnte, sollte, müsste – warten. Aber der Arzt behielt recht, irgendwie. Der Meniskus war nicht ganz gerissen, mein Knie nicht ganz unbenutzbar. Und es wurde besser, an manchen Tagen sogar richtig gut. Und an anderen wieder nicht. An diesen Tagen vernebelte mir der Schmerz die Sinne. Dann fühlte ich mich ziemlich allein auf der Welt mit diesem furchtbaren Ziehen, das mir bei jeder Treppenstufe das Gesicht entgleiten ließ.
Aus dieser Erfahrung heraus wählte ich nach meinem letzten Orthopäden-Termin die kniefreundliche Fahrstuhlfahrt runter zum Praxisausgang – noch die Frage im Kopf, ob ich das denn könnte, „mit dem Schmerz leben“. Und als sich mal wieder der selbstleidige Gedanke zu formen begann, dass ja sonst niemand seit zwölf Jahren einen angerissenen Meniskus hatte, erreichte mich ein verletztes Emoji: Eine Freundin hatte sich das Herz gebrochen – und anstatt eines Orthopäden suchte sie unseren WhatsApp-Chat auf.
Auch hier versuchte ich, aus Erfahrung zu schöpfen: Gegen Herzschmerz hilft kein Ibuprofen, kein Rotwein, noch nicht mal ein neues Date mit kopfloser Knutscherei. Das sind alles nur Pflaster, die sich nach dem nächsten emotionalen Händewaschen in ihrer Labbrigkeit auflösen. Ein angerissenes Herz lässt sich auch nicht nähen, ähnlich wie mein Meniskus. Was also konnte ich empfehlen bei quälendem Liebeskummer?
Könnte, sollte, müsste – warten. Ich klang wie der Arzt damals vor zwölf Jahren. Dabei verstand ich die Sehnsucht nach einem konkreten Heilungsplan nur zu gut. Ich versuchte, ihr Hoffnung zu schenken, auch wenn ich wusste, dass der Schmerz sich dadurch nicht lindern ließ. Und ich wollte eine Krücke sein für sie, wenn es sich doch nur beschwerlich einen Fuß vor den nächsten setzen ließ. Aber das einzige, was ich mit Sicherheit sagen konnte: „Ich fühle mit dir.“
Denn wir alle kennen Schmerz. Nicht denselben, aber unseren. Da sind Menschen in meinem Leben mit chronischen Schmerzen in den Gelenken. Menschen mit dem emphatischen Schmerz für ein anderes Volk. Und Menschen mit dem lähmenden Schmerz über den Tod der einen großen Liebe. Menschen, die sich beim Spielen mit dem besten Kindergartenfreund schmerzhaft das Kinn aufgeschlagen haben. Und Menschen, denen es bis heute in der Seele wehtut, ihrem besten Kindergartenfreund damals so schmerzhaft das Kinn aufgeschlagen zu haben. Menschen mit dem nagenden Schmerz über eine verpasste Chance. Und Menschen mit dem Schmerz der Reue, sich nicht entschuldigt zu haben, als es noch möglich war.
Schmerzen sind vielfältig. Und manche bleiben für immer. Jeder auf seine Art so tiefsitzend und hartnäckig und zermürbend, dass einem manchmal die Luft wegbleibt. Kein Arzt, kein bester Freund, kein Abreißkalenderspruch kann daran etwas ändern. Wollen wir damit leben? Natürlich nicht. Können wir damit leben? Vielleicht. Wir können es zumindest versuchen – von der Gewissheit gestützt, mit dieser Aufgabe nicht allein zu sein.