Las Vegas: Kein Tod in Strass
Über meine Nahtod-Erfahrung im Fake-Europa (und darüber, dass Handy-Armtaschen nicht das letzte sind, an das ich denken will).
Sommer 2019. Las Vegas erhob sich wie eine Oase aus funkelnden Strasssteinen am Horizont der Nacht. Doch so stillos wie diese Diamantimitate auf Spaghettiträgertops Anfang der 2000er gewesen waren, entpuppte sich auch die Stadt. Eine schlecht kopierte Europakulisse jagte die nächste: Von Rom nach Venedig waren es hier nur sieben Minuten Fußweg. Die meiste Zeit davon fraß jedoch die Suche nach einer Überführung – Straßenüberquerungen werden Las-Vegas-Besuchern nur selten zugemutet. Lieber pfercht man sie zwischen hochwandigen Absperrungen auf den Gehwegen ein. Vielleicht sogar zu ihrer eigenen Sicherheit, definitiv nicht zu meiner. Doch noch nicht zu dieser Stunde.
Als der Himmel langsam den mir schon aus Kalifornien bekannten Lilaton annahm, war es erst kurz vor sechs. Das Mekka der Sünde schlief wie ein Baby. Die Straßen waren leergefegt, die schlechte Musik dröhnte nur noch für sich selbst aus den Boxen. Die Rolltreppen fuhren einsame Runden. Und eine Ente hockte zerzaust und verstört und allein am Rand des chlorigen Springbrunnenwassers. Dann sah ich einen ersten Menschen in Las Vegas: Ein Mittdreißiger joggte routiniert in hippen kurzen Shorts und Tanktop von der Überführung aus ins Bellagio, die Treppe im Hotel hinunter, aus der Drehtür raus und zum nächsten Casino-Eingang. Sein Telefon trug er lauferprobt mit einem dieser schrecklich unschönen, aber wohl praktischen Gurte am gebräunten Oberarm. Als die ersten Sonnenstrahlen auch meine Haut trafen, erinnerte mich ihr Brennen daran, dass ich mich mitten in der Wüste befand. Nicht in Italien oder Paris – auch wenn die Plastik-Ummantelungen der Fassaden so taten. Durch klimatisierte Casino-Hotels zu joggen war unter diesen klimatischen Bedingungen wohl nur folgerichtig.
Mit der Hoffnung, dass Reste der Sonnencreme vom vorigen Nachmittag auf meiner Haut die Busfahrt überlebt hatten, ergab ich mich schließlich der Schattenlosigkeit. Doch es kam schlimmer, schlimmer als Angst vor Hautkrebs: nämlich als am Ende des von Betonmauern gesäumten Fußwegs eine rote Unterhose auf mich zulief. Ein zweiter Mensch in Las Vegas. Der Typ, der in ihr steckte, trug sonst nichts, dafür war sein Kopf in derselben Farbfamilie. Obwohl er nicht groß oder breit war, auch nicht so trainiert wie der Jogger aus dem Bellagio, nahm sein Gang fast den gesamten, eigentlich für sich drängende Menschenmassen ausgelegten Gehweg ein. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, über den Oberkörper. Er schwitzte fürchterlich. Ich tippte spontan, dass das nicht an den ersten Sonnenstrahlen lag.
Außerhalb Las Vegas’ fußgängerfeindlicher Mauern hätte ich die Straßenseite gewechselt. Kurz überlegte ich, mich umzudrehen – und dann? In weißen Blockabsatz-Pantoletten, taupefarbenem Slipdress und mit ihm im Rücken in dieselbe Richtung zu laufen? Doch da schrie er schon: „You! You! I’m gonna shoot you! I’m gonna shoot you in your fucking face! You fucking cunt!“ Und die Betonmauern, die mich mit dem Typen in roter Unterhose auf einem Gehweg in Las Vegas einsperrten, blockierten die Sicht auf alle möglichen Entscheidungen.
Seine spärliche Kleidung bot nicht viel Stauraum für eine Waffe; ich war nie glücklicher, einen schwitzenden Fremden nur in Unterhose zu sehen. Und irgendwie schaffte es mein Körper an seinem vorbei. Mir kam die Ente in den Sinn. Und der Jogger mit dem hässlichen Armgurt. Und ich hoffte, dass das nicht die letzten Dinge waren, an die ich denken würde.
Nach ein paar Schritten drehte ich mich zu ihm um, er lief nun rückwärts, mir weiter den Tod drohend. Dass wir uns dabei voneinander entfernten, beruhigte mich – auch wenn das in US-amerikanischer Schusswaffendenke absolut kein Grund zur Beruhigung gewesen wäre. Doch meine glücklicherweise fehlende Erfahrung darin ließ mich mit dem tobenden Mann in Unterhose im Rücken weiterlaufen, die Rolltreppe nehmen und über eine Überführung das nächste In-Casino-Café ansteuern.
Eigentlich hätte ich Schnaps gebraucht. Aber ich bestellte Kaffee, den wohl schlechtesten und teuersten meines Lebens. Die Frau hinter dem Tresen lächelte so abgeklärt, dass ich befürchtete, sie mit meiner Nahtoderfahrung nur zu langweilen. Ich zog also stumm die Kreditkarte durch den Kartenleser. Den Becher mit meinem Namen trug ich bis zum Springbrunnen vor dem Bellagio. Die Ente war verschwunden. Ich kippte den Kaffee weg. Und ich glaube, dann atmete ich das erste Mal wieder aus.