Seide für alle Tage
Wer in seinem Nachthemd lebt, muss damit rechnen, es zu ruinieren – und die schönsten Erinnerungen zu sammeln.
Mein crèmefarbenes Seidennachtkleid ist dahin. Erst bekam es Eigelbflecken, dann rissen die Träger ein. Und irgendwann gesellten sich zum Ei frisch gemähtes Gras, Rotwein und Balsamico. Mittlerweile sieht es aus, als wäre Marie-Antoinette darin gestorben – und zwar nicht, ohne vorher ein letztes überbordendes Fest zu feiern.
In zwei Jahren habe ich geschafft, was dem Kleid ein Viertel Jahrhundert nicht antun konnte. Es ist aus den 90ern, aus der Bridal Collection von Börner, die es längst nicht mehr gibt. Ob die Braut, die es mal trug, noch verheiratet ist? Glücklich? Oder steckt sie in einer Scheidung, weil sie es mit dem besten Freund ihres Mannes getrieben hat? Vielleicht hatte sie es auch nie an, dieses Negligé, weil sie in ihrer Hochzeitsnacht völlig betrunken auf dem Sofa eingeschlafen ist. Vielleicht hat sie geschnarcht. Vielleicht liebt ihr Ehemann sie trotzdem.
Ich trug das Seidennachtkleid auch außerhalb des Schlafzimmers. Etwa als ich mit der Kaffeetasse in der Hand in der kleinen sardischen Bucht auf einen Felsen kraxelte, um der Sonne beim Aufgehen zuzugucken. Oder als ich während einer Berliner Hitzewelle ein ganzes Wochenende vor mich hin schwitzte, abgekühlt durch Gänge zum Späti, um Wassereis der Sorte Waldfrucht zu holen, das nicht nur meine Zunge blau färbte. Einmal habe ich das Seidennachtkleid zu einem Kindergeburtstag mit Planschbecken ausgeführt, ein anderes Mal darin in einem Schlauchboot auf See gehofft, das Ventil richtig verschlossen zu haben.
Unsere Erlebnisse waren so vielfältig wie die Styling-Möglichkeiten: mit Hut und Hawaiihemd im Strandurlaub, mit einem Pullover um die Schultern geworfen durch den Berliner Herbst, mit einem knappen T-Shirt drunter auf ein Glas Rosé ums Eck und unter einem schultergepolsterten Blazer überall sonst hin. Bis dass der Tod uns scheidet. Und das ist jetzt, wo die vom vielen Bleichen ganz steif gewordenen Seidenfasern endgültig brechen. Aber ich habe es ja nicht anders gewollt.
Weil ich glaube, dass Kleidung keine Kompromisse kennen sollte. Ich möchte nichts verpassen, nur weil die Schuhe neu sind oder das Oberteil von Prada ist. Flecke und Risse sind ärgerlich, aber sie erzählen die besten Geschichten. Wie soll ein Teil zu meinem Lieblingsstück werden, wenn ich darin nichts erlebt habe?
Dazu gehören auch Situationen, die mir lieber erspart geblieben wären. Wie ich mich auf dem höchsten Berg Zyperns mit dem Kleid in einem Dornenbusch verfing zum Beispiel. Oder als ich mich auf dem Balkon über einer Dorfstraße Kalabriens den Passanten unten ohne präsentierte, als das Kleid durch seinen Seitenschlitz Aufwind von einer Meeresbrise bekam.
In guten wie in schlechten Zeiten: Ich habe mein crèmefarbenes Seidennachtkleid geliebt, heiß und innig. Und nun könnte ich trauern und mir wünschen, dass es noch wie neu wäre – ohne Flecken, ohne Risse. Aber dann wäre es auch ohne Erinnerungen.