Über mein Unvermögen, mich zu frisieren
Ich kann nicht alles können und sollte manches einfach lassen: mir die Haare zu machen zum Beispiel.
Der Wecker klingelt, als ich schon seit 36 Minuten wachliege. Und damit zwei Stunden und 36 Minuten, bevor ich das Haus verlassen muss. Es ist Sonntag und könnte so entspannt sein. Doch ich bin nervös wie vor dem Mathe-Abi.
Obwohl, sogar da war ich gelassener. „Was ich in zwölf Jahren Schulzeit nicht gelernt habe, werde ich jetzt auch nicht mehr nachholen können“, entschuldigte ich mich damals bei mir selbst – und arbeitete die Woche vor der Prüfung lieber an meiner Bikinibräune (was war der Mai 2008 sonnig!) statt an meinem Verständnis für binomische Formeln. Aber es reichte, ich kam durch. Und diese Erinnerung des Erfolgs motiviert mich für mein heutiges Vorhaben: meine Haare zu frisieren.
Mein Haarstyling besteht in der Regel aus einem kraftvollen Schwung meines Kopfes nach vorn, gefolgt vom Kneten des Ansatzes kopfüber und einem ebenso kräftigen Schwung meines Kopfes wieder nach hinten. Abgeschlossen wird diese Routine mit generösen Sprühstößen von Haarspray. Doch hin und wieder stelle ich mich selbst vor die Prüfung, alles anzuwenden, was ich in 35 Jahren aus Selbstversuchen und Youtube-Videos übers Frisieren gelernt habe. Dann will ich das Beste aus meinen Haaren herausholen – oder sie wenigstens „ausreichend“ in Form bringen. Die 6 Punkte in der Mathe-Prüfung hatten ja auch fürs Abi gereicht.
Heute ist so ein Tag. Ich nehme die Einladung zu einem Geburtstagsessen als Anlass. Eine Stunde habe ich fürs Haaremachen eingeplant – die zweite ist fürs Make-up und Kaffeetrinken. Und die 36 Minuten vor dem Weckerklingeln sind wohl für die Nerven gewesen.
Ich betrete das Bad mit Ehrfurcht. Es ist ein Ort des Gedenkens: an mal mehr und mal weniger erfolgreiche Haar-Versuche. Wie das eine Mal, als der Föhn mitten im Unterfangen den Geist aufgab und ich mit halb frisierten, halb nassen Haaren zum Bewerbungsgespräch musste. Oder als ich als Trauzeugin am Tag der Hochzeit vergessen hatte, den Conditioner auszuspülen und mich wunderte, warum die Haare nach dem Föhnen an mir herunterhingen wie drei Wochen nicht gewaschen.
Aber vielleicht habe ich daraus die notwendigen Lehren gezogen, rede ich mir ein. Vielleicht verfüge ich genau deswegen heute über hinreichend Basiswissen. Und noch im Pyjama treffe ich die erste Entscheidung, die auf Erfahrung fußt: Ich ziehe mein Oberteil aus. In Gedanken klopfe ich mir dafür auf die nun nackte Schulter. Zu oft habe ich mir „nur mal schnell“ die Haare kopfüber in der Badewanne waschen wollen – um dann mit schaumigem Nacken, nassem Ausschnitt und verschmiertem Mascara wie ganz geduscht auszusehen. Die 35 Jahre zahlen sich jetzt schon aus.
Ich hänge also oben ohne über der Badewanne, um meine langen Haare erst mit der Handbrause nass zu machen und sie anschließend mit durchschnittlichem Shampoo einzuschäumen, von dem ich Überdurchschnittliches erwarte. Eine Denke, die nicht nur beim Haarewaschen regelmäßig für Enttäuschung sorgt. Doch als sich beim Ausspülen ein Rinnsal von den Seiten meiner Stirn zwischen meinen Augenbrauen bildet, um dann auf meinem Nasenrücken entlangzufließen, fühlt sich das fast heroisch an: Meine Wimpern sind nämlich noch ungetuscht; da ist diesmal nichts, was verlaufen könnte.
Das Waschen geht erstaunlich schnell. Dabei habe ich den Conditioner zweimal ausgespült, nur um Gewissheit zu haben. Ich wickele mir ein Handtuch um den Kopf und stelle mich, noch immer oben ohne, vor den Spiegel. Wenn ich jetzt etwas anziehe, auch das weiß ich aus Erfahrung, würden die nassen Haare alles durchtränken. Das müsste ich dann wieder ausziehen und mit dem Föhn umständlich trocken pusten; was nie ganz klappt, weil ich zu ungeduldig bin. Und dann würde ich mir das immer noch klamme Oberteil über die frisch geföhnten Haare streifen und frieren, weil es eben immer noch klamm ist. Oben ohne zu bleiben ist nur folgerichtig.
Ein guter Look, denke ich mir. Also das Handtuch auf dem Kopf. (Oben ohne aber eigentlich auch.) Ich verstehe, warum Herb Ritts den Moment festhielt, als Elizabeth Taylor im Frottee-Turban mascara-trunken in die Kamera guckte (dass sie ihren kolossalen Verlobungsring von Richard Burton mit ins Bild schob, war natürlich genauso ein Blickfang). Oder den cineastischen Moment, als Sophia Loren im Film „Arabesque“ mit nichts als einem rosa Handtuch um den Kopf gewickelt zu Gregory Peck in die Dusche steigt.
„Bathleisure“ nennt das Jahrzehnte später der Modejournalismus. Und auf Instagram machte Mario Testino daraus die Hashtag-Reihe #TowelSeries, unter der er Fotos von Topmodels wie Kate Moss, Cara Delevingne und Miranda Kerr in Handtüchern postete. Doch wie so einige Modetrends ist auch der Badezimmer-Schick nicht unbedingt straßentauglich. Was wäre, würde sich der Turban unterwegs lösen? Ein Bad Hair Day der Superlative! Also wickele ich meine Haare aus der mittlerweile vollgesaugten Baumwolle und stelle mich dem eigentlichen Gegner: Föhnen mit der Rundbürste.
Wer das zum ersten Mal selbst versucht, fragt sich, warum Friseure nicht bezahlt werden wie Tesla-Ingenieure. Das zweihändige Jonglieren mit Föhn, Bürste und Haarsträhnen ist gegen die Physik. Gut für mich, denn darin war ich noch schlechter als in Mathe. Noch besser ist, dass ich das an diesem Sonntagmorgen eben nicht zum ersten Mal selbst versuche.
Das Wichtigste ist, das habe ich von ein, zwei, dreihundert Hair Tutorials gelernt, Haarpartien abzuteilen. Ich habe dafür extra Abteilklammern gekauft. Nur liegen die seither ungeöffnet in meinem Kosmetikkoffer im Badezimmerschrank. Und weil mir das Herauskramen und Aufmachen auch heute zu viel ist, nehme ich die zwei viel zu kleinen Clips, die sonst meinen Pony davon abhalten sollen, in mein Gesicht zu fallen.
Ich greife auf meine bescheinigten „ausreichenden“ Mathe-Kenntnisse zurück und teile meine Haare in zwei Partien: eine tatsächliche und eine mit acht gedachten. Ich habe ja nur die zwei viel zu kleinen Clips. Meine umständliche Strategie ist, nach jeder geföhnten Partie alle Haare erneut in eine tatsächliche und acht gedachte Partien aufzuteilen – minus die, die bereits geföhnt wurden. Wenn man nicht drüber nachdenkt, ergibt es Sinn.
Aus den Produkten, die mir „maximales Volumen“, „No Frizz“, „ultimativen Glanz“ und „dynamischen Halt“ versprechen, schöpfe ich mit vollen Händen. Eine Begründung für dieses umfangreiche Arsenal gibt es nicht. Wie gesagt, ich frisiere meine Haare fast nie; aber heute. Und anscheinend will ich, dass sich die Käufe der Flakons und Tuben jetzt lohnen.
Ich setze mit der Rundbürste an der ersten Partie an, um sie vom Kopf wegzuziehen. Dabei bemerke ich, dass meine Haare lang geworden sind. Mit weit ausgestrecktem Arm halte ich die Haarspitzen über die Rundbürste gespannt fest. Mein Nacken krampft kurz, während meine von den Styling-Produkten glitschigen Finger mit letzter Kraft den Bürstengriff umschlingen. Und mein Schultermuskel ist völlig überfordert von dieser unvorhergesehenen Strapaze.
Stress überkommt mich. Und die Angst, nicht genug Zeit eingeplant zu haben. Von der einen Stunde sind nur noch drei Viertel übrig. Und eigentlich bräuchte ich jetzt erst mal Physiotherapie. Ich fange an zu schwitzen. O nein. Bloß nicht! Denn was macht eine feuchte Kopfhaut mit frisch frisiertem Haar? Es zunichte!
Mit immer noch ausgestrecktem Arm, der die Rundbürste mit den darüber gespannten Haarspitzen hält, laufe ich zum Badezimmerfenster. Nicht weil ich springen will. Ich brauche Luft. Zurück vorm Spiegel sehe ich nun, was die Möglichkeiten einer Bruststraffung wären. Ich justiere den ausgestreckten Arm mal höher und mal tiefer, um die verschiedenen Level des Eingriffs auszuloten. War ich vorhin nicht noch zufrieden mit der Position der beiden C-Körbchen?
Ich schüttele den Kopf über mein Selbstbewusstsein, das plötzlich unter dem Zeitdruck einzubrechen droht. Aus Selbstschutz setze ich meine Brille ab. Mit -3 Dioptrien sieht die Welt gleich ganz anders aus. Ein strammer Drillton im Kopf motiviert mich außerdem, die körperdysmorphe Störung genauso zu ignorieren wie die Krämpfe im Nacken und den vor Erschöpfung zuckenden Schultermuskel.
Und es funktioniert. Ähnlich wie in der Mathe-Prüfung damals folgt nach einem zerschmetternden Tiefpunkt bei etwa der Hälfte der Zeit ein Aha-Moment. Strähne für Strähne trocknet unter dem Föhn. Am Ende bilden sie jeweils eine schwungvolle Locke. Ein Viertel der Stunde habe ich noch, das sehe ich auch ohne Brille – und zu föhnen ist nur noch die obere Partie meines Hinterkopfes. Und mein Pony, aber darin bin ich geübt; also wirklich geübt.
Die Siegessicherheit kehrt zurück. Ach Anne, war das denn so schlimm? Wie ein altes weises Mütterchen lächle ich großmütig über das Drama, das ich mir offenbar nur selbst bereitet hatte. Die obere Partie meines Hinterkopfes ist jetzt auch geföhnt. So wie mein Pony, den ich danach mit einem Klettlockenwickler aufrolle, um ihn möglichst lang in Form zu halten, während er auskühlt.
Da kommt der Mann ins Bad, der mich seit acht Jahren mit und ohne frisierte Haare liebt. Mein leidiger Blick fragt ihn: „Sehe ich gut aus?“ Und er antwortet in Worten: „Du siehst toll aus. Das sahst du auch gestern schon. Und den Tag davor.“ Er gibt mir einen Kuss auf meine ponyfreie Stirn. Und ich zerbreche innerlich: Ich sehe aus wie gestern? Als ich es den ganzen Tag lang nicht geschafft hatte, mich überhaupt zu kämmen? (Auch dafür hat der Modejournalismus einen Euphemismus gefunden: „Bedroom Hair“.)
Ich setze die Brille wieder auf, um mir selbst ein Bild zu machen. Und irgendwie, nun ja, sieht das nicht wie das Ergebnis einer Tortur aus, wie ich sie in der letzten Stunde hinter mich gebracht habe. Der Mann, der mich seit acht Jahren mit und ohne frisierte Haare liebt, hat recht. Es sieht vielmehr nach gar nichts aus. Ich suche das „maximale Volumen“ am Hinterkopf, den „ultimativen Glanz“ in den Längen und den „dynamischen Halt“ am Ende der doch gerade noch gelockten Haarspitzen.
Als ich den Klettlockenwickler aus meinem Pony ziehe, muss ich auch noch feststellen, dass ich ihn auf der falschen Seite mit einem der zwei viel zu kleinen Clips befestigt hatte. Nun hat mein Pony eine ungewollte, dafür sehr stabile Kante in seinem Schwung nach außen. Ich sehe also nicht ganz aus wie gestern, sondern schlimmer.
Aus dem Haus gehe ich trotzdem pünktlich. Dabei habe ich die zweite Stunde nicht nur dafür genutzt, meine Wimpern in Mascara zu tunken und Kaffee zu trinken. Ich habe auch nach einer Antwort gesucht, warum meine Frisierfähigkeiten so mangelhaft, nein: ungenügend sind. Selbst wenn es nicht völlig schiefgeht, ist es den Aufwand nie wert. Doch diese Gleichung kommt mit zu vielen Unbekannten, um sie an einem Sonntagmorgen zu lösen. Dafür benötigt es mehr als 6 Punkte.