Es gibt Sonntage, da setze ich meine Brille bis zum Mittag nicht auf. Die Dioptrien beträgt -3, ich sehe also nicht nichts. Es ist vielmehr eine angenehme Unklarheit. Ich sehe die Dinge grober, im Großen und Ganzen vielleicht? Auf jeden Fall deutlich weniger deutlich.
Eier kann ich so kochen; auch wenn nicht immer genau sechs Minuten lang. Die Zeiger der Küchenuhr sind zu unscharf. Dabei lege ich sehr viel Wert auf korrekt gekochte Eier. Aber ohne Brille verzeihe ich das schneller. Ohne Brille verzeihe ich der Welt generell viel mehr.
Ein Morgen ohne Brille ist wie in der Provence: ein bisschen verlebt, aber mit viel Charme. Und irgendwo klebt auch noch Teig oder Farbe oder ein Kürbis verdorrt. Alles ist weniger ernst ohne Brille. Als wäre die Welt noch nicht vollends hochgefahren. Da ist Abstand.
Während ich auf die Eier warte, starre ich oft aus dem Fenster. Dabei kann ich brillenlos noch nicht mal die abblätternde Farbe des Rahmens richtig erkennen. Aber ohne Brille aus dem Fenster zu schauen ist wie die ganze Welt zu sehen. Da sind weniger Details, da ist mehr Zusammenhängendes.
Ich schneide Körnerbrötchen, gieße die Petersilie im Fensterbrett und wasche Kaffeetassen ab. Manchmal brate ich auch kleine Bratwürste ohne Brille. Alles ist möglich, nichts hält auf.
Wenn ich dann beschließe, ein vollwertiger Teil des Tages zu werden, und die Brille aufsetze, tut mir die Klarheit anfangs immer leicht weh in den Augen. Jetzt sehe ich schärfer, jetzt sehe ich alles: dass sich im Innenhof zwei Tauben zanken, dass da noch Krümel auf dem Tisch liegen, obwohl ich abgewischt hatte und dass der gerade noch von mir vermutete schwarze Hautkrebs nur ein breit gedrückter Mohnsamen auf meinem Nasenrücken ist.