Zypern: Katerfrühstück als Entschädigung
Als unser Hotel überbucht war, ich zu viel Village-Vino hatte und Sofronis auf den Serpentinen von seiner Insel schwärmte.
Sommer 2018. Sofronis musste mich für einen unglaublich unhöflichen Gast halten. Während er uns über holprige Schleichwege von Kalavasos nach Tochni manövrierte, hatte ich keine Kraft für Konversation; noch nicht mal fürs Nicken. Was ich hatte, war ein Mordskater.
Mein Kopf konzentrierte sich darauf, aus dem Autofenster zu hängen. Denn dort lenkte mich der Fahrtwind von meinem Schwindel ab. So versuchte ich mir weiszumachen, dass ich mich gar nicht übergeben musste. Doch die Serpentinen waren des Fahrtwinds größter Feind – genau wie der Village-Vino am vorherigen Abend meiner gewesen war. Merke: Was wie Schnaps schmeckt und wie Schnaps aussieht, ist Schnaps, auch wenn es der zypriotische Barbesitzer in Weingläsern serviert.
Dabei freute ich mich aufs Frühstück in Sofronis’ Hotel. Eindruck hatte es bisher nämlich nur im Dunkeln machen können – und auf den gut ausgeleuchteten Airbnb-Fotos: ein traditionell aus Stein gebautes Dorfhaus mit dicken Mauern, kleinen Fenstern und einem türkisfarbenen Pool, von pinken Bougainvilleen umwachsen. Sofronis’ Frühstückseinladung dorthin sollte die Wiedergutmachung dafür sein, dass uns in der Nacht unserer Ankunft niemand unterzubringen wusste.
„There“, hatte der Taxifahrer an jenem Abend gesagt, als er uns auf einem Hügel irgendwo zwischen Larnaka und Limassol rausließ und ins Dunkle zeigte. Immerhin nicht in die Richtung, aus der wir gekommen waren: mit engen Gassen, so steil, dass mein Rollkoffer die acht Kilometer bis zum Meer direkt wieder runtergerollt wäre. Tatsächlich war der Eingang zum Hotel, eine nicht weniger steile Treppe, gleich „there“ – nur ohne Licht schwer zu finden.
Die unbeleuchtete Rezeption schien genauso geschlossen wie der Rest des Ortes. Aber Smartphones halfen: mit der Taschenlampen-Funktion und dem guten alten Telefonanruf. Zumindest konnten wir so erfahren, dass wir dort zwar richtig waren, in unserem bezahlten Doppelzimmer mit Balkon nur leider schon jemand schlief. Doch nach einer Stunde Radebrechen mit dem schläfrigen Rezeptionisten hatte sich eine Lösung gefunden. Ein sehr freundlicher, vielleicht aber auch leicht angetrunkener Mitarbeiter bugsierte uns im Auto durchs mitternächtliche Hinterland Zyperns. Ein, zwei Gläser Village-Vino hatten eben noch keinem geschadet – außer mir, wie sich herausstellen sollte.
Wir landeten in einem zweigeschossigen Apartment mit Quasi-Privatpool. Eine Entschuldigung hatte Sofronis eigentlich nicht nötig. Aber er bestand drauf. Und so hing ich nun morgens irgendwas vor 9 Uhr auf seinem Beifahrersitz auf dem Weg zurück zu unserem ursprünglich gebuchten Hotel, um Frühstück spendiert zu bekommen: meine Haare zerzaust vom Wind und das Auto auf der Schotterpiste schwankend wie mein Mageninhalt.
Auch wenn ich nicht am Gespräch teilnehmen konnte, versuchte ich, Sofronis zuzuhören. Seine Geschichten hatten es verdient. Er erzählte davon, wie erschrocken er war, als er nach seinem Wirtschaftsstudium in den USA nach Zypern zurückkehrte und es die meisten jungen Zyprioten aus den Dörfern in die Städte und damit in den Massentourismus getrieben hatte. Dass er die Apartments vermietete, um die zypriotische Dorfkultur zu bewahren. Seit 1987 machte er das schon. Inzwischen waren seine Cyprus Villages eng mit dem vermarktbaren Begriff Agrotourismus verbunden. Gut für ihn, dachte ich, und gut für Zypern.
Sofronis schwärmte von seiner Heimat: vom Halloumi, den Stränden, dem Olympos als höchster Berg der Insel. Als er den Wein lobte, wollte ich ihm widersprechen, aber mein Körper ließ mich im Stich. Ich ergab mich Sofronis’ Euphorie. Er klang fast verliebt. Noch mehr, als er davon erzählte, wie er 1988 sein Herz an eine Schweizerin verlor. Sie hatte mit ihrer Schwester eigentlich einen Kameltrip in Tunesien machen wollen, aber dort war alles ausgebucht. Dann wurde es Zypern – und eine Unterkunft von Sofronis. Es war Liebe auf den ersten Blick. Und die gipfelte am Tag ihrer Abreise am Flughafen in einem echten Kino-Moment: „This isn't over, isn't it? “ – „Seems like it's just begun.“ Marisa, mittlerweile seine Ehefrau, hat diesen Dialog in einem Buch festgehalten.
Das ließ mir kurz die Übelkeit vergehen und mich daran erinnern, wie sehr ich den Mann liebte, mit dem ich hier Urlaub machte und der nun hinter mir im Auto saß und mich nicht damit aufzog, dass ich gestern Abend in weingetränktem Übermut wie ein Ninja-Kämpfer rücklings über eine Hecke rollen wollte. Kein Wort von ihm darüber, dass ich es nicht schaffte, in der Hecke versank und mit einem sich aufwickelnden Wickelrock wirklich ungalant herausklettern musste. Dieser Mann streichelte stattdessen (oder trotzdem) meine Schulter und reichte mir Wasser.
Die Übelkeit kam jedoch zurück, als Sofronis noch mal ordentlich aufs Gas drückte, den Straßenstaub zu einem Sandsturm aufwirbelte und körperliche Bewegung zum Thema machte: Er bewarb Yoga-Stunden am Strand, Mountainbikes für die Fahrradtouren durchs Troodos-Gebirge. Weinberge könnten wir erkunden, Verkostungen inklusive, oder an der Olivenernte teilnehmen. Ich aber scheiterte schon daran, aufrecht zu sitzen. Und an Wein wollte ich wirklich nicht mehr denken. Bei einem traditionellen Kochkurs Halloumi herstellen vielleicht? – „I just … can’t … right now.“
Wir hatten noch ein paar Kilometer vor uns, da sahen wir auf den Bergkämmen etwas, das wie Panzerspuren aussah. Sofronis korrigierte: Es waren Brandschneisen, die einen Waldbrand daran hindern sollten, sich weiter auszubreiten. Militär würden wir trotzdem noch sehen: an der UN-Pufferzone, die die Insel bis heute teilt, und an einer britischen Militärbasis, neben der ich unser Auto festfahren würde.
Sofronis kam vom Schwärmen zum Kopfschütteln – darüber, wie viele Menschen ihre Wohnung aufgrund der türkischen Invasion Mitte der 70er plötzlich verlassen mussten, mit nichts außer der Kleidung, die sie trugen. Griechische Zyprioten aus dem Norden flohen in den Süden, türkische Zyprioten in den Norden. Über 2.000 Menschen starben. Und von den Überlebenden konnten einige bis heute nicht zurück. Dem voraus ging ein blutiger Putsch der griechischen Zyprioten, die damit das Ende der britischen Kolonialherrschaft und eine Vereinigung mit Griechenland bewirken wollten. Wäre mir nicht schon schlecht gewesen, hätte sich mir spätestens beim Gedanken an die Schicksale, die alles verloren und mit nichts neu anfangen mussten, der Magen umgedreht. Krieg ist doch zum Kotzen!
Als wir in die steilen Gassen einbogen, kamen Erinnerungen an unsere Ankunft hoch: nur jetzt im Sonnenschein. Sofronis preschte die Straßen rauf und schon standen wir auf dem Parkplatz, auf dem uns der Taxifahrer rausgelassen hatte. „There“, sagte Sofronis und zeigte auf die pinken Bougainvilleen. Ja, jetzt sahen wir die auch.
Die steile Treppe hinabgestiegen, erwartete uns die Szenerie der Airbnb-Fotos: ein Steinhaus mit dicken Mauern, kleinen Fenstern und einem türkisfarbenen Pool. Die Frühstückstafel war riesig. Regionales Obst, Gemüse und Gebäck aus der Nachbarschaft waren liebevoll angerichtet. Ein Kellner und eine Kellnerin halfen dem Koch, die letzten Gerichte aus der Küche zu holen. Doch mehr als drei Flaschen Wasser würde ich an diesem Morgen nicht runterbekommen. Ich sagte ja, Sofronis muss mich für einen unglaublich unhöflichen Gast gehalten haben. Aber ich sah auch das Positive: Immerhin hatte ich es geschafft, mich nicht in seinem Auto zu übergeben.