Museumsreife Mode
Mein Kleid von Adele Simpson ist amerikanisches Kulturgut und ein Zeugnis der textilen Emanzipation, schon lange bevor es „Power Dressing“ gab.
Dass ich Modegeschichte in den Händen hielt, als ich das Kleid aus dem Seidenpapier befreite, wusste ich erst später. Zunächst war ich völlig hin und weg von der Leichtigkeit des Wollstoffes, vom perfekt gefalteten Plissee, vom bordeauxrot-grünen Tartanmuster und dem senffarbenen Quastenprint, der sich darüber hinwegschlängelte.
Und spätestens bei den Knöpfen wusste ich, dass der Vintage-Shop dieses Kleid zurecht in die frühen 80ern verortet hatte: So viel Liebe zum Detail schenkt man heute keiner Verschlusstechnik mehr. Hochwertig schwer reihten sich die Knöpfe den Rücken entlang – zusammen mit zwei winzigen Ösen aus Garn und einem Hosenhaken. Das war handgemacht! Klar, dass dieses Kleid eins meiner Lieblingsteile werden würde.
Von den ausladenden Schulterpolstern ganz zu schweigen. Selbst im Liegen gaben sie dem Kleid die Idee von „Power Dressing“: die Trend-Silhouette der 80er, als Frauen die Unternehmensetagen in den USA genauso machtvoll betraten wie es bis dato nur Männer getan hatten. Die textile Emanzipation kam mit breitem Kreuz und wadenlangen Röcken daher – und dieses Kleid war ein Zeugnis dessen.
Doch der Markenname in geschwungenem Handschrift-Font sagte mir nichts. Ein peinliches Eingeständnis, wie sich herausstellte. Denn die New Yorker Designerin Adele Simpson hatte den „Working Woman Chic“ schon lange vor den 80ern geprägt. Vor fast hundert Jahren gründete sie gemeinsam mit 16 anderen Frauen aus der Modeindustrie die Fashion Group International – eine Art Branchenförderer-Verein, der heute über 5.000 Mitglieder hat.
Mit 21 hatte Adele Simpson die Spitze der Seventh Avenue1 erklommen und galt als einer der bestbezahlten Modedesigner der Welt. 35.000 Dollar soll sie 1924 verdient haben; das entspräche heute einer Kaufkraft von etwa zwei Millionen Dollar.2 Damals war sie Chefdesigner bei Ben Gershel, einem Hersteller für Mäntel und Anzüge. Unter ihrem eigenen Namen designte sie erst zehn Jahre später – was nur noch mehr Erfolg nach sich zog.
Dabei war das keine Selbstverständlichkeit. 1959 druckte die New York Times: „Mode ist Frauensache. Doch die überwiegende Mehrheit der Modehäuser wird von Männern geführt. Es gibt jedoch einige bemerkenswerte Ausnahmen, darunter Adele Simpson.“ Mit nur 1,45 Meter mag sie klein gewesen sein (angeblich musste sie auf Seifenkisten steigen, um auf Modenschauen gesehen zu werden) – aber in der amerikanischen Modeindustrie war Adele Simpson nicht zu übersehen.
Ihre Designs wurden von Lichtgenie Horst P. Horst und dem nicht weniger berühmten Modefotografen Cecil Beaton3 für die Vogue inszeniert. Kaufen ließen sich die Kleider bei Top-Modehäusern wie Saks Fifth Avenue, Bloomingdale’s oder Bergdorf Goodman. 1947 kostete ein Nachmittagskleid von ihr 50 Dollar, ein Abendkleid 70 Dollar – das war etwas weniger als die Miete für eine 3-Zimmer-Wohnung mit Aufzug in Manhattan.4
Ihre Entwürfe wurden nicht nur mit Preisen ausgezeichnet, als sie noch lebte. Sie gehören mittlerweile auch zum Bestand des Kostüminstituts des Metropolitan Museum of Art. Dabei waren ihre Designs nicht so glamourös wie die von Christian Dior, nicht so rebellisch wie die von Coco Chanel oder so luxuriös wie die von Norman Norell. Ein Kleid von Adele Simpson war besonders, weil es alltagstauglich war. Und das war in den 40ern so aufregend wie ein Paillettenkleid mit Rückenausschnitt bis zum Steiß.
Ihre Philosophie: „Mode ist ein Misserfolg, wenn sie nicht funktional ist.“ Sie erkannte das Bedürfnis der Frauen, nicht länger von einer schmal geschnürten Taille oder betonten Brüsten behindert zu werden. Und sie wollte das Anziehen vereinfachen: Kleider sollten nicht mehr umständlich über den Kopf gezogen werden müssen (wer konnte sich nach der Weltwirtschaftskrise noch ein Kleiderfräulein leisten?), sondern die Frauen sollten einfach hineinsteigen können. 1978 erklärte sie in einem Interview, sie mache keine Kleider, „in denen es sich schwer zu Fuß laufen, in einen Bus steigen oder Autofahren lässt“.
Ihre größte Inspiration war das Reisen – was sich mit ihrem Gehalt gut umsetzen ließ. Ihren ersten Tokio-Trip machte Adele Simpson im Jahr des Petticoats. Nur konnte sie keinen einpacken, da sie lediglich einen Koffer für ihre Kleidung mitnehmen durfte. In Japan lernte sie dann die Kunst der Falttechnik kennen. Sie war völlig aus dem Häuschen, dass man so viel Platz sparen konnte, indem man Kleidung nur richtig legte. Das inspirierte sie dazu, Stoffe in ihren Kollektionen zu verwenden, die sich einfach verstauen ließen und auch im kleinsten Koffer faltenfrei blieben.
Dabei war sie kein Fan der damals populären Kunstfasern, sie präferierte natürliche Stoffe. Als einer der ersten Designer verarbeitete sie Baumwolle für Abendgarderobe. Aus Indien holte sie sich Inspiration für die Verwendung von Seiden-Surah. Und ihre Anzüge aus „Rehfell“, einem Wolle-Seide-Mix, wurden ebenfalls als Innovation gefeiert.
Nach einem halben Jahrhundert in der Modeindustrie ging Adele Simpson 1985 in Rente, da war sie 82. Bis in ihre 70er hinein hatte sie noch selbst entworfen. Mein Kleid war also vielleicht eins ihrer letzten Designs gewesen – oder von Donald Hobson kreiert worden, der 1978 unter ihrer Führung die Position des Chefdesigners übernahm. 1991 war das letzte Jahr der Marke, vier Jahre später starb auch Adele Simpson.
Ganz im Sinne ihrer Mode-Philosophie habe ich mein Adele-Simpson-Kleid auch mit auf Reisen genommen: nach Breslau. Dort stieg ich zwar nicht auf Seifenkisten, aber in Busse und ging (zu Fuß!) ins Museum. Ich fand, das war nur angemessen.

Die Seventh Avenue verläuft durch den New Yorker Garment District und wird aufgrund ihrer Rolle als Zentrum der Bekleidungsindustrie seit Beginn der 70er auch „Fashion Avenue“ genannt.
35.000 Dollar waren 1924 etwa so viel wie 30 durchschnittliche Jahresgehälter. Dafür bekam man 120 Ford T-Modelle oder 343 Schiffsreisen in der „Tourist Cabin“ auf der SS Leviathan von Rotterdam nach New York. Ein Kaffee im Restaurant kostete übrigens nur 5 Cent, ein Martini in einer Speakeasy-Bar hingegen das Zwanzigfache.
Es ist irritierend, dass Cecil Beaton 1945 wieder für die Vogue fotografierte. Wurde er doch 1938 aufgrund antisemitischer Äußerungen entlassen. Er hatte damals kleine Cartoon-Illustrationen zu einem Artikel über die New Yorker Gesellschaft geliefert. Am Rand enthielten seine satirischen Zeichnungen winzige, kaum mit dem bloßen Auge lesbare Zeitungsseiten mit Klatsch und Tratsch – in Form judenverachtender Phrasen. Die Ausgabe wurde zurückgerufen und neu aufgelegt. Was noch mehr für Stirnrunzeln sorgt: Adele Simpson war als eine von fünf Töchtern lettischer Migranten selbst jüdisch.
In der Lower East Side kostete das Wohnen Anfang der 40er weniger als 30 Dollar, während es in Greenwich Village Wohnungen für 50 bis 100 Dollar gab. Rund um den Washington Square Park lagen die Mieten bei über 150 Dollar. Das ergab eine NYC-Marktanalyse von vier Zeitungen aus dem Jahr 1943.